Immer mehr Waschbären dringen von Deutschland her in die Schweiz. 2018 wurde im Müritz Nationalpark eine Langzeituntersuchung zu den Kleinbären beendet.
Ganze sechs Jahre lang haben Dr. Berit Michler und Dr. Frank-Uwe Michler ein Forschungsprojekt in einem Teil des Müritz-Nationalparks geleitet. Die Protagonisten ihrer Arbeit: Waschbären. Im vergangenen Jahr beendeten sie die bis dato umfangreichste und längste Freilandstudie zu den Kleinbären. Einige ihrer Ergebnisse stellte Berit Michler kürzlich im Schloss Hohenzieritz vor, wie Martina Schwenk im Nordkurier berichtete.
Eine grosse Frage, die im Raum stand: Ist der Waschbär gefährlich für heimische und vor allem geschützte Tierarten?
Nein, lautet das Fazit der Forschungsarbeit.
Über die Jahre wurden für das Projekt 145 Tiere gefangen und untersucht, 69 später per Senderhalsband beobachtet. Und jede Menge Kotproben gesammelt. „Die Proben haben wir in Berlin analysiert, um herauszufinden, wie sich das Nahrungsspektrum der Waschbären zusammensetzt“, sagte Michler. Im Jahresdurchschnitt ernähren sich die Kleinbären im Nationalpark zu mehr als 50 Prozent von Weichtieren wie Regenwürmern und Schnecken. Pflanzen machen 32 Prozent aus. Erst dann kommen Wirbeltiere. „Der Waschbär ist ein Opportunist, der nimmt, was er kriegen kann. Es gibt keine Spezialisierung auf eine bestimmte Nahrung. Daher ist auch künftig nicht von einem negativen Einfluss des Waschbären im Müritz-Nationalpark auszugehen.“
Räubern die Waschbären Nester aus?
Manch ein Teilnehmer an der Runde vermutete hinter schrumpfenden Zahlen von Vögeln, vor allem Enten, allerdings den Jagderfolg der Kleinbären. Genauer, dass die niedlichen Maskenträger Nester räubern würden. Und ob es überhaupt möglich sei, Eier in der Nahrung nachzuweisen. Ist es, bestätigte Michler. „Im Tiergarten Neustrelitz haben wir Eier an Waschbären verfüttert, um genau das zu testen. Jedes Mal fanden wir danach Eierschalen im Kot.“
Allgemein gehe es den Kleinbären im Nationalpark sehr gut. Die Forscher hatten sich eine Gegend ausgesucht, in der die Tiere geradezu ideale Lebensbedingungen haben. Das könne auch aus dem Revierverhalten abgelesen werden, so Michler. Wie die Daten der Senderhalsbänder zeigten, waren die Reviere im Nationalpark eher klein. „Das bedeutet, die Waschbären finden auf einer relativ kleinen Fläche bereits genug Nahrung.“
Bei den Proben aus der freien Wildbahn dagegen hätten die Forscher keine Eierschalen gefunden. Als Gegenprobe aus einer Kulturlandschaft wurde zudem Kot in der Feldberger Seenlandschaft gesammelt. Dort ernährten sich die Tiere verstärkt von Pflanzen.
Jägerlatein in der Schweiz
Falls der Waschbär in der Schweiz in eine Falle geht, ist sein Schicksal besiegelt. «Dann schiessen wir ihn. Das müssen wir», erklärt der Jagdaufseher Amadé Franzen aus Kaiseraugst. Denn Waschbären gehören in der Schweiz zu den Neozoen, den gebietsfremden Arten. Sie dürfen das ganze Jahr über geschossen werden. «Waschbären sind Allesfresser und Räuber. Sie gehen an Vogelnester und fressen die Eier. Wir müssen auch dafür sorgen, dass sie nicht in die Häuser gelangen und sich dort einnisten. Man bringt sie fast nicht mehr los. Das ist in Deutschland ein Problem», erklärt Franzen.
Gemäss Erwin Osterwalder, Fachspezialist Jagd und Fischerei beim Kanton Aargau, gibt es jedes Jahr ein paar wenige Sichtungen von Waschbären. «Er ist hier, aber noch nicht stark verbreitet.» Es habe im Aargau auch schon Abschüsse gegeben. «Der Waschbär ist ein starker Konkurrent für die einheimische Fauna, deshalb ist er auch gemäss eidgenössischer Jagdgesetzgebung bei uns unerwünscht. Es ist eine nordamerikanische Art, die über Deutschland in die Schweiz gelangt.»
Die natürlichen Feinde der Waschbärenjungen sind Luchs, Adler, Uhu und Fuchs. Jagd und Verkehrsunfälle sind die beiden häufigsten Todesursachen.
Männchen wandern, Weibchen bleiben im Revier
Im Herbst wanderten allerdings viele der mit Sendern versehenen Tiere im Müritzer Nationalpark eine grössere Strecke. Dieser Weg hat einen kulinarischen Grund: die reifen Früchte der spätblühenden Traubenkirsche. „Waschbären legen ihren Kot auf erhöhten Stellen ab, vorwiegend auf umgefallenen Baumstämmen. Diese Latrinen dienen aber auch dem Informationsaustausch“, erklärte Michler. Auf diese Weise erfahren die Kleinbären über den Kot von Artgenossen von den reifen Leckerbissen und ziehen los.
Das kann man verhindern, und zwar mit speziellen Manschetten um den Baumstamm.
Es sind vor allem die Männchen, die wandern. Weibchen dagegen haben feste Reviergrenzen. „Blutsverwandte Fähen schliessen sich in Gruppen zusammen, sogenannte Mutterfamilien. Diese Linien haben feste Grenzen zu anderen Gruppen“, erklärte Michler. Rüden dagegen verlegen ihre Gebiete und wandern zur Paarung durch die Reviere der Fähen. Ganz wichtig dabei: „Rüden paaren sich nie mit ihren eigenen Töchtern.“ Damit vermeiden sie gezielt Inzest.
Wichtig war auch, wer bei den Waschbären eigentlich für den Nachwuchs sorgt. Vor allem ältere, erfahrene Fähen ziehen demnach Nachkommen gross. Jährlingsfähen, die gerade geschlechtsreif sind, bekommen entweder keine Jungen oder kriegen sie oft nicht durch. Unter anderem fehlt ihnen die Erfahrung. Allerdings, so berichtet Michler, gibt es Ausnahmesituationen. „Wenn mehrere Tiere aus einem Revier sterben, beteiligen sich die Jährlingsfähen in der nächsten Paarungssaison verstärkt. Zudem zeigen Beobachtungen, dass die Tiere dann mehr Jungen gebären als sonst.“
Staupeausbruch im Nationalpark registriert
Das konnten die Forscher auch im Nationalpark beobachten. In einem Jahr, berichtete Michler, trat die Canine Staupe auf. An der Krankheit starben etliche Waschbären. Im Jahr darauf kamen ungewöhnlich viele Jungen zur Welt, sodass die Verluste schnell ausgeglichen wurden. Der Staupeausbruch beschränkte sich zudem auf ein einziges Revier. „Dadurch, dass die Reviere der Mutterlinien feste Grenzen haben, konnte sich die Staupe nicht ausbreiten“, erklärte Michler. Ob die Kleinbären Überträger von Krankheiten seien, fragte ein Jäger nach. Oder ob es Fälle von Räude gebe, fragte ein anderer. Nein, sagte die Forscherin. Neben Untersuchungen lebender Waschbären hatten die Forscher etliche Totfunde obduziert. „Bis auf die Staupe konnten bei der hiesigen Population keine übertragbaren Krankheiten festgestellt werden.“
Kurz wurde es hitzig in der sonst sachlichen Diskussion. Wie man die Anzahl der Tiere denn nun senken und sie loswerden könne, fragte ein Zuhörer. „Darum sind wir doch hier“, sagte der Mann. „Da haben sie das Thema des Vortrages wohl missverstanden“, erwiderte Michler ruhig und riet zur Vorsicht vor generellen Aussagen. „Wo eine Art von Beutegreifern lebt, gibt es auch andere. Nur dem Waschbär etwa die Schuld zu geben, dass Vogelpopulationen zurückgehen, wäre vorschnell.“ Zumal Wirbeltiere, und gerade Vögel, nachgewiesen nur sehr selten von Waschbären gefressen werden. Letztendlich habe der Waschbär im Nationalpark seine Höchstpopulation bereits erreicht. Auch in Deutschland würde er sich weiter ausbreiten. „Der Waschbär bleibt, aber wir können lernen mit ihm zu leben“, sagte Michler.
Fakten statt Jägerlatein
Es ist längst wissenschaftlich erwiesen, dass die Waschbär-Jagd die Reproduktion ankurbelt, dazu die Altersklassen und die Sozialstrukturen zerstört.
Der Versuch Waschbären durch Bejagung zurückzudrängen, gilt inzwischen als aussichtslos und gescheitert. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen konnten belegen, dass die Jagd auf Beutegreifer keinen oder kaum Einfluss auf den Bruterfolg von Bodenbrütern oder Populationsdichten von Niederwild hat. Die Bejagung von Beutegreifern führe zu keiner oder allenfalls kurzfristiger Reduzierung der Populationsdichte, da die Verluste umgehend durch Zuwanderung und erhöhte Wurfraten ausgeglichen werden.
In vielen Staaten Nordamerikas ist die Jagd die häufigste Todesursache von Waschbären. Sie kostet pro Jahr fast der Hälfte der Population das Leben. Trotzdem nimmt der Bestand nicht ab. Stattdessen kommt es durch jagdliche Eingriffe zu einer drastischen Verschiebung der Altersklassen. Das gesamte Sozialgefüge wird durch die Hobby-Jagd dramatisch manipuliert und gerät vollkommen durcheinander.
Der Biologe R.J. Robel und seine Mitarbeiter haben bereits 1986 die Auswirkungen des durch den Menschen verursachten zusätzlichen Aderlass untersucht, indem sie zwei Gebiete in Kansas (USA) miteinander verglichen. In einem Gebiet kamen innerhalb eines Jahres 52,5 Prozent aller Waschbären, davon die meisten durch Jagd oder Verkehr, um. In dem anderen Gebiet, das kaum Strassen und Wohnhäuser aufwies und wo auch keine Jagd ausgeübt wurde, starben im gleichen Zeitraum nur 26,5 Prozent aller Tiere. Die Forscher stellten fest, dass in der ungestörten Population Jungtiere mit einem Anteil von 28 Prozent in der Minderheit waren. In der gestörten Population war es umgekehrt, dort waren die Jungtiere mit 62 Prozent in der deutlichen Mehrheit. Jede ältere Fähe und 38 Prozent aller einjährigen Fähen waren dort trächtig. In der ungestörten Population wurde keine der einjährigen Fähen trächtig und nur 50 Prozent aller älteren Fähen.
Interessant war, dass in der bejagten Population keinerlei Bestandsreduktion zu beobachten war, sondern lediglich die oben beschriebene Verschiebung im Altersklassenaufbau. Die Waschbären waren also in der Lage, eine hohe Todesrate durch eine hohe Geburtenrate zu kompensieren.
Trotz der hohen Jugend- und Erwachsenenmortalität stellen die in die Erwachsenenriege hineinwachsenden Jährlinge die grösste Fraktion dar. In manchen Jahren repräsentieren sie sogar die Hälfte aller Tiere im gebärfähigen Alter. Ihnen kommt daher bei der Kompensation grosser Verluste eine überaus wichtige Schlüsselrolle zu. In stabilen Beständen und bei geringer Todesrate lassen sich die jungen Fähen mit der Mutterschaft Zeit und nicht selten findet man unter den Jährlingen kein trächtiges Tier. Sterben hingegen viele Tiere im Laufe eines Jahres, beteiligen sich meist auch junge Tiere an der Vermehrung. Dann werden bis zu Dreiviertel aller einjährigen und nahezu alle mehrjährigen Fähen trächtig. In solchen Situationen übernehmen allein die Erstlingsmütter aufgrund ihrer Kopfstärke den Löwenanteil an der Produktion des Nachwuchses.
Anhand dieser und anderen vielfältigen wissenschaftlichen Untersuchungen wird deutlich, dass Jagd nichts weiter als oberste Faunenverfälschung darstellt mit drastisch negativen Folgen. Jagd vergrössert Probleme, die sie vorgibt lösen zu wollen. Das ist übrigens nicht nur bei der Bejagung auf Waschbären so, sondern zum Beispiel auch bei den Füchsen. Weltweit sind negative Auswirkungen und Auswüchse der Jagd feststellbar. Die Hobby-Jagd ist ein gewaltsamer, zerstörerischer Eingriff in sensible Struktur- und Ökosysteme, mit negativen Kettenreaktionen, nicht nur bei der bejagten Tierart selbst.
Auf einer von der EU veröffentlichten Liste der »100 schlimmsten invasiven Tierarten des Kontinents« taucht der Waschbär gar nicht auf, im Gegensatz zu Katze oder Forelle.
Waschbären fressen Vögel, allerdings machen diese nur etwa 3,1 Prozent der Gesamtnahrung aus. Amphibien machen 5,7 Prozent aus, Reptilien nur 0,11 Prozent – was zeigt, dass die Behauptung, Waschbären bedrohten geschützte Amphibien und Reptilien, nur teilweise richtig ist. Mit Hilfe ihrer sehr sensiblen Vorderpfoten nehmen sie bei der Nahrungssuche eine ökologische Nische ein, die vorher nicht besetzt war. Sie stellen somit keine Nahrungskonkurrenz zu anderen, heimischen Arten dar, heisst es zum Beispiel in einer Infobroschüre des Berliner Senats.
Mehrwert:
- Streichung des Waschbären von den Listen der sogenannten invasiven Arten
- Auch Waschbären haben ein Recht auf Leben
- Der Umgang mit „invasiven“ Arten – eine kritische Analyse aus biologischer und rechtlicher Sicht
- Neozoen
- Basel will Waschbären töten
- Waschbären sind keine Gefahr
- Offener Brief an Katrin Schneeberger vom BAFU