Tierwelt

Schweiz: Vogelwelt hat sich in 100 Jahren stark verändert

Raubwürger, Rebhuhn und Rotkopfwürger: Vor 100 Jahren sah die Vogelwelt der Schweiz laut einem neuen Bericht der Vogelschutzorganisation Birdlife noch ganz anders aus. Viele Arten sind heute gefährdet oder ausgestorben. Andere siedelten sich neu in der Schweiz an.
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Hundert Jahre sind weltgeschichtlich keine lange Zeit – es ist ein Zeitraum von nur vier Generationen. Und doch hat sich die Schweiz in dieser kurzen Zeitspanne so stark verändert wie nie zuvor.

«Niemand kann sich heute mehr an diese Zeit zurückerinnern», sagt Beat Wartmann, Vizepräsident von BirdLife Schweiz. «Deshalb ist es auch den meisten Menschen gar nicht bewusst, wir dramatisch schlecht es den Vögeln heutzutage geht.» Weil die Veränderungen schleichend und langsam geschehen, gewöhnt sich der Mensch immer wieder an die neue Situation. «Diese shifting baseline verhindert, dass die Menschen das Ausmass des Problems sehen und verstehen.»

Brachvogel, Raubwürger und Steinkauz

Die Analyse, die in der Zeitschrift Ornis erschienen ist, zeigt, dass die Kulturlandschaft vor 100 Jahren noch vielen anspruchsvolleren, sprich spezialisierten Arten einen Lebensraum bot:

  • In der Linthebene und in anderen Feuchtgebieten brüteten noch Kiebitz, Grosser Brachvogel, Bekassine und Rotschenkel wie auch Tüpfelsumpfhuhn, Kleines Sumpfhuhn und Zwergsumpfhuhn. Von diesen Arten ist nur der Kiebitz als Brutvogel übrig, doch er überlebt nur dank Artenfördermassnahmen von BirdLife Schweiz und anderen Partnern.
  • Im Mittelland, ja selbst im Umfeld der Stadt Zürich, waren Arten wie Rebhuhn, Grauammer, Baumpieper, Raubwürger oder Braunkehlchen häufig anzutreffen. Das Rebhuhn – heute schweizweit ausgestorben – wurde gar noch bejagt. All diese Arten benötigen eine naturnahe, artenreiche Feld- und Wiesenflur, teils mit blütenreichen Wiesen und kleinparzellierten Äckern, teils mit Hecken und ungenutzten Bereichen oder breitem gestuftem Waldrand. Die Arten sind heute im Mittelland fast oder ganz ausgestorben, Rebhuhn und Raubwürger sind sogar schweizweit ausgestorben.
  • In den Obstgärten um die Siedlungen brüteten damals noch Rotkopfwürger, Gartenrotschwanz, Wendehals und Steinkauz. Ersterer ist heute in der Schweiz ausgestorben, für die anderen drei Arten laufen aufgrund ihrer Gefährdung Artenschutzprojekte von BirdLife Schweiz. Alle sind im Mittelland äusserst selten geworden; ihre Förderung ist aufwändig.
     

«Diese Arten halten uns den Spiegel vor», sagt Beat Wartmann, Autor des Berichts. «Sie zeigen, was wir an Artenvielfalt verloren haben, denn mit ihnen sind auch unzählige andere Arten und ganze Lebensräume verschwunden.»

Nicht verschwiegen werden soll, dass sich in den letzten 100 Jahren auch ein paar neue Arten ansiedeln oder Terrain gutmachen konnten. In den allermeisten Fällen handelt es sich um Kulturfolger oder besonders anpassungsfähige Arten wie Türkentaube, Alpensegler oder Saatkrähe. Aufgrund besserer Jagdgesetze erholten sich zudem mehrere Reiher- und Greifvogelarten, die früher rigoros verfolgt worden waren.

Anbauschlacht und Meliorationen

Dennoch stehen heute 60 % der Vögel auf der Schweizer Roten Liste oder Vorwarnliste. Verheerend für viele Arten war die Landwirtschaftspolitik, beginnend mit der «Anbauschlacht» während des Zweiten Weltkriegs: 60’000 ha Land wurden damals entwässert, 11’000 ha Wald gerodet und 80’000 ha Land melioriert. Eine weitere Aktion, die der Natur massiv schadete, war die Obstbaum-Fällaktion ab 1955. Wegen grassierendem Alkoholismus verordnete der Bundesrat das Fällen von Millionen von Bäumen. Auch in späteren Jahrzehnten bewirkte die immer intensiver betriebene Landwirtschaft und das sukzessive Entfernen von naturnahen Strukturen, dass heute im Agrarland fast keine Vogelarten mehr brüten oder überleben können, selbst die einstmals häufige Feldlerche steht heute auf der Roten Liste. Nur Mäusejäger wie der Rotmilan und anpassungsfähige Generalisten wie die Krähen nehmen zu, denn sie finden noch genügend Nahrung.

Die grossen Flüsse hingegen wurden schon früher kanalisiert. Die meisten Sümpfe wurden drainiert und zu Ackerland umgewandelt. Über 90 % der Feuchtgebiete sind bis dato verschwunden.

Riesiger Handlungsbedarf

Es braucht endlich eine Landwirtschaftspolitik, die eine nachhaltige Bewirtschaftung inklusive qualitätsvollen Massnahmen für die Biodiversität ermöglicht. Überdies braucht die Schweiz nun dringend ein Lebensnetz für die Biodiversität: Dieses Lebensnetz, die Ökologische Infrastruktur, ist ein landesweites System von Schutzgebieten, das die Hotspots der Biodiversität umfasst. Weniger als 10 % der Schweizer Landesfläche stehen bisher unter Schutz. Selbst in diesen Schutzgebieten bestehen in Bezug auf die Qualität noch Defizite. Die Roten Listen der Schweiz sind im Vergleich mit anderen OECD-Ländern besonders lang. Der Handlungsbedarf ist also riesig. Um die Biodiversität zu erhalten, müssen ca. 30 % der Fläche gesichert werden, wie auch die internationale Staatengemeinschaft am Weltnaturgipfel COP15 festgehalten hat. Da bereits zu viele Ökosysteme zerstört wurden, reicht alleine der Schutz bestehender Gebiete nicht mehr. Wertvolle Ökosysteme müssen in den Gebieten mit hohem Potenzial wiederhergestellt werden. Am Weltnaturgipfel in Montreal haben 196 Staaten beschlossen, 30 % der beeinträchtigten oder zerstörten Ökosysteme wiederherzustellen.