Der Nationalrat will nicht nur den Schutz der Wölfe in der Schweiz lockern, und zwar stärker als der Bundesrat. Das hat er am Mittwoch bei der Beratung des Jagdgesetzes entschieden.
Bereits heute erlauben die Behörden bei Problemen den Abschuss einzelner Tiere. Künftig soll der ganze Wolfsbestand reguliert werden können: Die Behörden sollen Tiere zum Abschuss freigeben dürfen, auch wenn diese keinen Schaden verursacht haben.
Das will auch der Bundesrat. Allerdings wollte er zur Bedingung machen, dass grosser Schaden droht und dass dieser nicht mit zumutbaren Schutzmassnahmen verhütet werden kann.
Der Nationalrat dagegen will eine Dezimierung des Bestandes bei jedem drohenden Schaden ermöglichen – auch wenn keine Herdenschutzmassnahmen ergriffen wurden. SP und Grüne kritisierten vergeblich, damit werde der Schutz völlig ausgehöhlt. Sie wollten beim geltenden Recht bleiben.
Nicht überborden
Manche Redner aus der Mitte riefen dazu auf, dem Bundesrat zu folgen. «Wenn wir überborden, haben wir am Ende gar nichts», warnte Stefan Müller-Altermatt (CVP/SO). Er spielte damit auf die Referendumsdrohungen verschiedener Umweltorganisationen an, die bereits im Raum stehen. Auch Umweltministerin Simonetta Sommaruga plädierte für Augenmass. Eine Regulierung sollte erst nach Schutzmassnahmen in Frage kommen, sagte sie. Sie verwies auch auf die Berner Konvention.
Nach dem schockierenden UNO-Bericht zum Artensterben fällt der Blick auch auf die Schweiz. Der Anteil der bedrohten Arten ist in keinem Land der Welt so gross wie in der Schweiz. Über ein Drittel der Pflanzen, Tiere und Pilzarten gilt als bedroht und was macht die Politik? Unweigerlich fragt man sich auch: werden die falschen Verbände unterstützt oder weshalb schneidet die Schweiz in dem UNO-Bericht so miserabel ab?
Der Rat folgte aber seiner Kommission und weichte die Bedingungen auf, mit 112 zu 80 und 113 zu 79 Stimmen. Der Abschuss von Wölfen soll dem Willen des Nationalrates jeweils zwischen dem 1. September und dem 31. Januar erlaubt werden dürfen. Der Ständerat hatte sich für einen längeren Zeitraum ausgesprochen, aber unter strengeren Bedingungen.
Auch Biber regulieren
Neben dem Wolf soll der Bundesrat die Regulierung des Bestandes weiterer geschützter Tierarten erlauben können. Der Ständerat möchte Luchs und Biber schon auf Gesetzesebene für regulierbar erklären, der Nationalrat nur den Biber. Der Entscheid zum Biber fiel mit 95 zu 91 Stimmen bei 4 Enthaltungen. Knapp verwarf der Rat den Vorschlag, die Bestandesregulierung auch für Graureiher und Gänsesäger vorzusehen.
Umstritten war ferner die im Gesetz verankerte Liste der jagdbaren Arten. Geändert hat der Rat diese jedoch nicht. Er lehnte Anträge ab, der Birkhahn und das Schneehuhn oder die Waldschnepfe aus der Liste zu streichen. Auch von Einschränkungen der Treibjagd und einem Verbot der Baujagd wollte er nichts wissen.
Umstrittene Zuständigkeiten
Zu diskutieren gaben ausserdem die Zuständigkeiten. Heute muss das Bundesamt für Umwelt (Bafu) dem Abschuss von Wölfen zustimmen. Künftig sollen die Kantone über die Bestandesregulierung entscheiden. Das Bafu soll lediglich angehört werden. Es könnte ausserdem eine Behördenbeschwerde einreichen.
Die Umweltorganisationen sollen weiterhin gegen Entscheide der kantonalen Jagdbehörden zu jagdbaren Tierarten Beschwerde einreichen können, etwa zu Schonzeiten. Anders als der Ständerat will der Nationalrat dieses Beschwerderecht nicht abschaffen. Sommaruga hatte darauf hingewiesen, dass sonst auch die Gemeinden das Beschwerderecht verlören.
Verhaltensauffällige Tiere
Bei einzelnen Problemtieren will der Nationalrat das Verbandsbeschwerderecht indes einschränken. Sommaruga argumentierte vergeblich, die Behörden hätten trotz des Rechts bereits heute genügend Möglichkeiten für präventive Abschüsse. Sie warnte auch davor, Ausdrücke wie «verhaltensauffällig» ins Gesetz zu schreiben.
Ferner ist der Nationalrat im Gegensatz zum Ständerat damit einverstanden, dass die Kantone Jagdprüfungen gegenseitig anerkennen sollen. Der Ständerat will beim Status quo bleiben, wonach jeder Jäger eine kantonale Berechtigung braucht.
Neue Subventionen
Zusätzlich im Gesetz verankern will die grosse Kammer neue Subventionen: Der Bund soll den Kantonen Finanzhilfen leisten für die Durchführung von Massnahmen im Umgang mit dem Wolf. Auch Artenförderungsmassnahmen in Schutzgebieten soll er abgelten.
Bund und Kantone sollen sich ausserdem an der Vergütung von Schaden an Wald, landwirtschaftlichen Kulturen und Nutztieren beteiligen, den Tiere bestimmter geschützter Arten verursachen.
Das Schweigen der Lämmer
SP, Grüne und Grünliberale wollten die Vorlage an den Bundesrat zurückweisen. Ihnen geht die Lockerung des Schutzes viel zu weit. Der Antrag scheiterte aber mit 126 zu 58 Stimmen. In der Debatte gingen die Emotionen hoch.
Die Wolfsgegner berichten von zerfetzten Schafen. Die Wolfsrisse führten zu einem Schweigen der Lämmer, sagte Franz Ruppen (SVP/VS). Die Schweiz sei zu dicht bevölkert für den Wolf. «Haben Sie einmal einem Schafbauer in die Augen geschaut, dessen Schafen die Eingeweide aus dem Leib gerissen wurden?», fragte Ruppen. «Sie wollen den Wolf ausrotten», erwiderte Martin Bäumle (GLP/ZH). Die Tiere hätten aber ein Existenzrecht. Das Gesetz sei faktisch ein Abschussgesetz, und das sei eine Anmassung. Markus Hausammann (SVP/TG) fragte ihn, ob es nicht viel mehr eine Anmassung sei, als Städter der Bergbevölkerung vorzuschreiben, wie sie mit den Grossraubtieren umzugehen habe.
Auch Magdalena Martullo (SVP/GR) warf den Städtern vor, sie wüssten nicht, wovon sie sprächen. «Wir haben ganze Wolfsrudel, die um die Häuser streichen», sagte die Zürcherin und Vertreterin des Kantons Graubünden – und erntete dafür Gelächter.
Respekt vor der Natur
Die Vertreterinnen und Vertreter von SP und Grünen betonten, die Natur sei stark unter Druck. Die Grossraubtiere hätten eine wichtige Funktion im Ökosystem, gab Silva Semadeni (SP/GR) zu bedenken. Wo der Wolf lebe, sei der Wald gesünder. Risse an Nutztieren seien zwar da und dort ein Problem. Zu über 90 Prozent passierten sie jedoch in Schafherden ohne Herdenschutzmassnahmen.
Beat Jans (SP/BS) warnte, die Bestandesregulierung könnte sogar kontraproduktiv sein. Die gefährlichsten Wölfe seien jene, denen man das Rudel weggeschossen habe. Bastien Girod (Grüne/ZH) rief zu mehr Respekt und Freude an den Tieren auf. Er erinnerte auch daran, dass weitaus mehr Schafe wegen Abstürzen und Blitzen sterben als wegen des Wolfs.
In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat das revidierte Jagdgesetz mit 115 zu 67 Stimmen bei 3 Enthaltungen an. Nachdem der Ständerat schon vorher das Gesetz beraten und es bei der Abstimmung angenommen hat, ist die kleine Kammer nun wieder am Zug für die Bereinigung der Differenzen.
Jagdgesetz. Eine Lesehilfe von BirdLife Schweiz, Pro Natura und WWF Schweiz
1. Werdegang der Revision
Das geltende Jagd- und Schutzgesetz (JSG) kann als austariert bezeichnet werden: Das Dreieck «Schutz, Regulierung und Jagd» hat sich bewährt. Den Anstoss zur Revision des geltenden Gesetzes gab insbesondere die Motion des Bündner Ständerates Stefan Engler (14.3151) „Zusammenleben von Wolf und Bergbevölkerung“. Die Motion verlangt vom Bundesrat einen Entwurf für die Anpassung des Jagdgesetzes «zum Zwecke der Bestandsregulierung bei Wolfspopulationen» vorzulegen. Die moderate Motion fand in beiden Räten eine Mehrheit, und auch Naturschutzorganisationen konnten die Motion akzeptieren. Sie erhofften sich zudem, dass mit einer Revision des JSG die Jagdbarkeit von Arten der Roten Liste (bspw. Birkhahn, Alpenschneehuhn, Waldschnepfe, Feldhase) endlich der Vergangenheit angehören würde.
Fünf Jahre später, im Mai 2019 und vor der Debatte im Zweitrat, ist aus der Motion Engler eine stark befrachtete und umstrittene Gesetzesrevision erwachsen. Zahlreiche Parlamentarierinnen und Parlamentarier sowie Organisationen, die sich von der Motion Engler eine Entspannung und Versachlichung der Diskussion rund um den Wolf erhofft hatten, erkennen im vorliegenden Gesetzesentwurf den Geist der Motion Engler nicht mehr: Statt den Kantonen mehr Handlungsspielraum im Umgang mit dem Wolf zu geben, höhlt der vorliegende Gesetzesentwurf generell den Schutz gefährdeter Tierarten in der Schweiz aus und stellt die Nutzer- klar über Schutzinteressen. Es ist daher von einem eigentlichen Paradigmenwechsel in der Legiferierung die Rede. Das Gesetz ist komplizierter statt stringenter geworden, bislang als wichtig erachtete Bundeskompetenzen wurden an die Kantone abgetreten – und die Konflikte rund um den Umgang mit geschützten Arten dürften künftig durch das neue Gesetz nicht ab- sondern massiv zunehmen.
2. Inhaltliche und formale Wertung
Die auf dem Tisch liegende Gesetzesvorlage geht über das ursprüngliche Mandat weit hinaus. Chancen zum besseren Schutz von bedrohten Arten wurden hingegen verpasst:
Die Regulierung der Bestände geschützter Tierarten wird vom Bund zu den Kantonen übergehen (Art. 7a, Abs. 1) und wird damit zunehmend (lokal-)politischen Druckversuchen ausgeliefert sein. Ein schweizweit, geschweige denn international koordiniertes Management raumgreifender Arten wie Wolf oder Luchs wird verunmöglicht.
Abschüsse „auf Vorrat“ sind neu möglich, d.h. ohne dass Tiere je Schäden angerichtet hätten (Art.7a Abs 2 lit. b) – man wird z.B. Wölfe oder Graureiher und Gänsesäger künftig abschiessen dürfen, „einfach weil es sie gibt“.
Die Liste regulierbarer geschützter Arten kann künftig jederzeit durch den Bundesrat erweitert werden (Art.7a Abs 2 lit. c) – d.h. ohne Mitsprache von Volk und Parlament.
Das Beschwerderecht wird teilweise aufgehoben (Art. 5, Abs. 7) und damit ein wichtiges Instrument der demokratischen Kontrolle der Entscheide der Jagdbehörden auf ungerechtfertigte Weise aufgehoben. Entscheide kantonaler Jagdbehörden bei jagdbaren Arten können damit nicht mehr wie bisher wenn nötig von Gerichten überprüft werden. Wenn das BAFU die einzige Instanz ist, welche noch Rekurs machen kann, werden bei nicht erfolgten Rekursen Aufsichtsbeschwerden gegen das BAFU massiv zunehmen.
Der Schutz zahlreicher weiterer geschützter Arten (z.B. Biber, Fischotter, Luchs, Mittelmeermöwe, Höckerschwan…) wird durch das Zusammenspiel der Artikel 7a Abs. 1, Art. 7a Abs. 2 lit. b und Art. 7a Abs. 2 lit. c ausgehöhlt, indem künftig eine beliebige Nutzergruppe (Landwirtschaft, Fischzüchter/Fischer, Jäger usw.) nur „genug Lärm“ machen muss, damit der Bundesrat unter dem politischen Druck – wie schon beim Wolf – einknickt und diese eigentlich geschützten Arten für regulierbar erklärt. In der Folge können die Bestände dieser Tierarten allein durch die Kantone reguliert (resp. dezimiert) werden – und zwar ohne dass sie überhaupt je konkrete Schäden einer gewissen Höhe angerichtet hätten. Hinzu kommt, dass die Nutzerseite künftig nicht einmal mehr verpflichtet ist, zumutbare Schutzmassnahmen gegen allfällige Schäden zu ergreifen (Art. 7a Abs. 2 lit. b).
Bedrohte, auf der Roten Liste geführte Arten wie Feldhase, Birkhahn, Schneehuhn oder Waldschnepfe können weiterhin bejagt werden (Art. 5, Abs. 1). Es handelt sich hierbei um eine reine Trophäen- respektive „Traditionsjagd“, die wildbiologisch nicht begründet werden kann. Dass diese gefährdeten Arten nicht endlich unter Schutz gestellt wurden, ist eine verpasste Chance für den Artenschutz im Jagd- und Schutzgesetz JSG und ein weiterer Kniefall vor den Interessen der Nutzerseite.
3. Wildtiere und die Kantonsgrenzen (Art. 7a, Abs. 1)
Laut der Bundesverfassung ist der Bund für den Artenschutz zuständig. Noch anlässlich der Revision der Jagdverordnung führte der Bundesrat 2012 nicht weniger als sechs Gründe auf, weshalb die Zuständigkeit bei Ein¬griffen in Bestände geschützter Tierarten Bundessache sein muss. In Widerspruch dazu soll die Hoheit nun plötzlich an die Kantone übergehen. Der Bund wird künftig bei geplanten Regulierungsmassnahmen gegen Bestände geschützter Tierarten nur noch angehört (Art. 7a, Abs. 1). Die Kantone können jedoch schon heute über den Abschuss geschützter Einzeltiere entscheiden und sie können – einfach mit Zustimmung des Bundes – sogar heute schon Bestände regulieren. Die heute geltende Zustimmung des Bundes erlaubt eine koordinierte Regulierung. Ohne sie wird ein nachhaltiger Schutz seltener Arten über Kantons- und Landesgrenzen hinweg verun¬möglicht. Wildtiere kennen aber keine politischen Grenzen! Dass in allen Kantonen die notwendigen Kompetenzen und Ressourcen für Monitoring und Regulierung geschützter Arten vorhanden sind, muss zudem bezweifelt werden. Die Gesetzesrevision kann unter Druck zu „Schnellschüssen“ von Kantonen im Umgang mit geschützten Tierarten führen. Beschwerden von Seiten Bund und Verbänden werden sich (wo sie letzteren denn überhaupt noch möglich sind) häufen – also das Gegenteil dessen, was die Revision ursprünglich bezweckte!
4. Legiferierung und Regulierung auf Vorrat (Art.7a Abs 2 lit. b)
Der Entwurf weitet die Gründe für die Bestandsregulierung geschützter Arten stark aus. Abschüsse „auf Vorrat“ würden möglich – also Abschüsse einer namhaften Anzahl Tiere einer geschützten Art, ohne dass diese je Schäden angerichtet hätten und ohne dass zuvor die nötigen Präventivmassnahmen ergriffen wurden (Art.7a Abs 2 lit. b). Dies hätte zur Folge, dass bereits „wahrscheinliche“ Schäden als Grund zur Bestandsregulierung von geschützten Arten gelten.
5. Mehr geschützte Tierarten könnten quasi jagdbar werden (Art.7a Abs 2 lit. c)
Dem Bundesrat soll ermöglicht werden, neben den im Gesetz bereits gelisteten Arten (im aktuellen Entwurf Wolf, Steinbock, Graureiher, Gänsesäger) auf dem Verordnungsweg weitere geschützte Arten (z.B. Luchs, Biber, Fischotter, Mittelmeermöwe, Steinadler, Höckerschwan…) als regulierbar zu erklären. Immer mehr geschützte Arten laufen Gefahr, auf diese Weise analog heute dem Steinbock „quasi jagdbar“ zu werden. Welche Arten ins Visier gelangen, wird nur mehr eine Frage des Drucks verschiedener Interessengruppen sein.
6. Rückweisung an den Bundesrat (Minderheit Semadeni) als Grundlage für ein Gesetz mit Augenmass
Die Gesetzesrevision schiesst weit über das Ziel hinaus. Sie ist zu einer Legiferierung auf Vorrat und zur Besänftigung lauter Minderheiten in ausgewählten Regionen verkommen und ist daher zurückzuweisen. Dazu ist die Rückweisung eine Chance: Sie verlangt, dass die Motionen Engler (14.3151, Wolf) und Niederberger (15.3534, Höckerschwan) ohne proaktive Regulierungsmassnahmen umgesetzt werden. Auf eine Ausweitung der Regulierung auf weitere geschützte Tierarten wird verzichtet und die heutige Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen beibehalten. So würde ein Gesetz mit Augenmass geschaffen.